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Lasst die Seeigel im Meer! – Verzicht und „Fake“-Gerichte zum Schutz einer Delikatesse

Es war immer eine Freude, im Winter in Sardinien Spaghetti (oder andere Nudeln) „ai ricci“ zu essen. Denn Nudeln mit etwas Öl, Knoblauch, Petersilie und reichlich Rogen von Seeigeln sind ein echter Genuss. Das Gericht gehört seit langem zu den besonderen Delikatessen der sardischen Küche. Ich habe die „pasta ai ricci di mare“ deshalb auch gerne in mein (zurzeit leider vergriffenen) Kochbuch aufgenommen. 

Aber Jetzt heißt es: Lasst die Seeigel im Meer! Denn seit einiger Zeit kommt Pasta mit Seeigeleieirn und das Essen der Seeigel überhaupt in Verruf. Denn die Seeigel an Sardiniens Küsten werden überfischt, der Bestand ist dadurch bedroht. (Mehr dazu weiter unten.) Schon vor zwei Jahren haben deshalb zahlreiche Restaurants, vor allem in Cagliari, demonstrativ die Pasta ai ricci von der Speisekarte genommen und auch keine frisch gefangenen Seeigel mehr als Vorspeise oder zum Aperitif serviert. (Die Eier/Rogen werden mit einem kleinen Löffel direkt und roh aus den aufgeschnittenen Schalen gegessen.)

Prall gefüllte Seeigel – da läuft dem Feinschmecker das Wasser im Munde zusammen.

Kampagne #iRicciMiPiaccionoInMare

Die Restaurants haben das im Rahmen der Kampagne #iRicciMiPiaccionoInMare (die Seeigel gefallen mir im Meer) getan. Im Rahmen dieser Kampagne und darüber hinaus wird der Ruf nach einer dreijährigen totalen Schonzeit für Seeigel an den sardischen Küsten immer lauter. Der Bestand soll sich deutlich erholen können. Eine Petition mit dieser Forderung an die sardische Landesregierung habe ich selbst auch gerne unterschrieben. Ich finde diese Initiative gut, eben weil ich die Seeigeleier gerne esse und sie in Zukunft wieder mit gutem Gewissen genießen können möchte.

Das Zeichen der Kampagne zum Schutz de Seeigel in Sardinien. Hier ein Sticker mit der Aufschrift „Ich unterstütze …..“

„Fake“-Gerichte als Ersatz

Was aber kann man in der Zwischenzeit tun? Man kann natürlich einfach vorübergehend auf frische Seeigeleier und vor allem auf die Pasta ai ricci verzichten. Oder man kann nach Alternativen suchen, die einen ähnlichen Genuss versprechen, aber die Seeigel-Population schonen. Einige sardische Köche haben letzteres versucht. Sie bieten in ihren Restaurants jeweils ein Gericht an, das so aussieht und sich in der Textur so anfühlt, als sei es mit Seeigel-Eiern zubereitet und sogar im Geschmack dem Original nahe kommt. Man könnte diese Kreationen „Fake“-Gerichte nennen. Aber sie werden mit einem Augenzwinkern angeboten und dienen als Ersatz für das Original vor allem einem guten Zweck.

Seeigel im Meer
„Spaghetti ai ricci scappati“ (Spaghetti mit ausgebüchsten Seeigeln) im Restaurant HUB in Macomer.

Leonardo Marongiu, Chefkoch des Restaurants HUB in Macomer, nennt seine „Fake“-Version der Pasta ai ricci „Spaghetti ai ricci scappati“ (Spaghetti mit ausgebüchsten Seeigeln). Ich habe das Gericht probieren können. Es kommt dem Original tatsächlich recht nahe. Vor allem ist es lecker und erfüllt deshalb in jeder Hinsicht seinen Zweck. Das Rezept habe ich hier leider nicht erfahren.

Rezept-Veröffentlichung mit Folgen

„Il riccio è un capriccio“ (Der Seeigel ist eine Laune) heißt die Kreation von Emmanuele Cossu dem Chefkoch des Restaurants Frontemare in Quartu Sant’Elena. Auch er reproduziert den Geschmack, den Geruch und die Textur von Seeigeln, ohne sie bei der Zubereitung zu verwenden. Er nimmt Miesmuschel, mit denen er den feinen Meeresgeschmack der Seeigel nachahmt. In der Zeitschrift LA CUCINA ITALIANA erklärt er dazu: „Bei der Kreation dieses neuen Gerichts haben wir mit den Eigenschaften des Seeigel-Proteins, der Basis der Emulsion, die wir im Original-Rezept verwendet haben, begonnen und sie nach zahlreichen Versuchen durch eine andere Zutat mit einem ausgeprägten Meeresfrüchte-Geschmack und einer starken Aminosäurekette ersetzt, nämlich durch Miesmuscheln, die an den heimischen Küsten reichlich vorhanden sind. Die Konsistenz der Emulsion konnten wir zudem durch der Verwendung von Eigelb fixieren.“

Cossu hat sein Rezept veröffentlicht und damit regelrecht Furore gemacht. Viele, auch nationale Zeitschriften (zum Beispiel LA CUCINA ITALIANA oder „vanity fair Italia“) haben das Rezept weiter verbreitet und über die Initiative des jungen Kochs geschrieben. Die nationale Radiostation Rai Radio 1 hat sogar einen kleinen Film dazu auf die eigene Website gestellt. Der fkleine Film ist auf dieser Website beim Rezept eingebunden.

Das Gericht „Il riccio è un capriccio“ steht bis zum Ende der Seeigel-Fangsaison im April 2020 auf der Speisekarte des Restaurants Frontemare. Ein Teil des Verkaufserlöses wird zur Unterstützung der Sensibilisierungskampagne #iRicciMiPiaccionoInMare verwendet, die vom Verein QuiEtica organisiert wird.  

Zuhause gut nachzukochen

Ich habe das Rezept ausprobiert (es hat gut geschmeckt) und in deutscher Sprache auf die Website gestellt. Hier geht’s zum Rezept, zu den Fotos von der Zubereitung und zu einigen Tipps, wie das Gericht zuhause noch etwas besser gelingen kann:

Das Rezept von Emmanuele Cossu „Il riccio è un capricci“ zuhause ausprobiert. Mit einem Klick gehts zum Rezept auf Deutsch und zu den Bildern von der Vorbereitung.

Reale Bedrohung der Bestände von Seeigel im Meer

Die Seeigel-Bestände in den sardischen Meeren sind aufgrund der immer intensiveren legalen und illegalen Befischung für gastronomische Zwecke deutlich bedroht. Schon die  Berufsfischer, die an sechs Tagen in der Woche bis zu 2000 Exemplare pro Tag fangen können, dezimieren den Bestand stärker als dieser sich erholen kann. Wenn man davon ausgeht, dass es 189 zugelassene Fischer gibt und dass die Fangsaison 5,5 Monate dauert, könnten allein in den sardischen Gewässern potenziell 49 Millionen Seeigel pro Jahr gefangen werden. 

Hohe Dunkelziffer bei illegaler Fischerei

Manuela Maninchedda, Präsidentin von QuiEtica, dem Verein, der die Schutzkampagnae initiiert hat und ein dreijähriges generelles Fangverbot fordert, sagt dazu, dass eine solche Rechnung natürlich nur theoretisch sei. Aber selbst wenn diese theoretische Fanghöchstmenge in der Realität nicht erreicht werden sollte, müsse man sehen, dass es zusätzlich ja auch noch noch die illegale Fischerei gäbe. Immer wieder werden von der Polizei kiloweise illegal gefischte Seeigel-Eier beschlagnahmt. Das deutet auf eine wegen der hohen Preise auf dem Schwarzmarkt sehr große Dunkelziffer bei der Seeigel-Wilderei hin.

Aber noch ein anderer Aspekt beunruhigt die Experten: 50% der gefangenen Seeigel hat einen Schalenumfang von weniger als fünf Zentimetern, die eigentlich die kommerzielle Mindestgröße kennzeichnen. Von diesen kleinen Seeigeln, die dann für die Reproduktion fehlen, braucht man mehr als 1200 Exemplare, um ein Kilo Masse für den Einsatz in den Restaurants zu erhalten.

Einschränkung der Lebensqualität der einheimischen Bevölkerung

Unter dieser Situation leidet nicht nur der Bestand der Seeigel. Auch die heimische Bevölkerung ist die leidtragende. Denn die Entnahme von Seeigeln durch Privatleute wird heute ebenfalls streng reglementiert und teils sogar verboten. Das ist für viele Sarden an den Küsten eine Einschränkung ihrer Lebensqualität. Denn sie gingen früher im Winter bei schönerem Wetter gerne mit Freunden oder mit der Familie ans Meer, um Seeigel-Eier zu essen. Mit Brot und Wein wurde die Delikatesse zum Mittelpunkt eines kleinen Festes. Teils wurde (auf einem Campingkocher) auch eine Pasta ai ricci zubereitet oder es wurden so viele Seeigel mit nach Hause genommen, dass man dort noch ein leckere Pasta mit den begehrten Eiern essen konnte.

Von der Nachhaltigkeit zum Raubbau

Das war alles sehr nachhaltig, weil die Anzahl der dem Meer entnommenen Seeigel bei weitem nicht den Bestand gefährdete. Im Gegenteil, es gab ein Überangebot an Seeigeln und eine „Reinigung“ der strandnahen Küstenbereiche von Seeigeln mit ihren schmerzhaften Stacheln war sogar nützlich für die nächste Badesaison. Erst die extensive kommerzielle Nutzung der Seeigel brachte die Wende. Es wurden immer größere Küstenabschnitte „abgeerntet“, was durch den Einsatz von professionellen Tauchern auch immer einfacher wurde. Wie so oft brachte der Erfolg (die Pasta ai ricci wurde in den Restaurants beleibter und beliebter) die Wende von der Nachhaltigkeit zum Raubbau.

Die Petition für ein Moratorium, einen vorübergehenden Stop, des Seeigel-Fangs in Sardinien richtete sich an den Landwirtschaftsminister der Region Sardinien.

Es bleibt zu hoffen, dass die Initiative #iRicciMiPiaccionoInMare und die Petition für ein Moratorium, also ein mehrjähriges Fangverbot, Erfolg haben. Vielleicht kann man dann wieder zu einer nachhaltigen Bewirtschaftung der Seeigel-Bestände in Sardinien kommen. Und auch ein Erfolg der Forschungsanstrengungen, die Seeigel zu züchten und dann ähnlich wie heute Muscheln „anzubauen“, ist wünschenswert. Wenn das alles gelingt, wird man diese außergewöhnliche Spezialität irgendwann wieder mit gutem Gewissen genießen können.  

Text: Hans-Peter Bröckerhoff

Fotos: Hans-Peter Bröckerhoff, LinkOristano, QuiEtica, Frontemare

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